SC Westfalia Herne – TuS Haltern
Stadion am Schloss Strünkede, Herne, 10. Februar 2019
Zuschauer: 472

Das ist Wahnsinn, warum schickst Du mich in die Hölle? schepperte es nach dem Abpfiff aus der Lautsprecheranlage und ich schrie zurück: Hölle Hölle Hölle Hölle!
So etwas macht man nicht, das weiß ich sehr wohl, aber manchmal ist es eben auch egal. Besonders nach diesem Spiel.

Aber von vorne:
Das Stadion in Herne war über viele Jahre hinweg ein Sehnsuchtsort von mir, ein vergleichsweise kleiner, so dass ich nie alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um dort ein Spiel zu sehen. Eher war es so, dass ich zufällig in der Gegend war und gerne ans Schloss Strünkede gefahren wäre, aber Westfalia spielte an diesem Wochenende leider auswärts. Oder sie spielte zuhause, aber St. Pauli war gleichzeitig bei der Zweiten des 1. FC Köln zu Gast. Oder sie spielte zuhause und ich hätte Zeit gehabt, aber das Feld war gefroren oder mehr Schlamm als Rasen und deswegen spielte sie eben doch nicht.

Diesmal aber hat es geklappt. Es gab zwar die Woche über Schnee und die letzten Tage Tauwetter und Nieselregen, aber neuerdings gibt es Kunstrasen hier.

So machte ich mich vor einigen Sonntagen frohgemut auf die Reise mitten rein ins Ruhrgebiet, mit dem toolmaker und Sir Paul an meiner Seite. Und wenn es manchmal schwierig ist mit Vorfreude und Erwartungen, wegen der Enttäuschung, die man unweigerlich spürt, weil alles doch nicht ganz so ist, wie man es sich vorgestellt hat, so sei für dieses eine Mal gesagt: Es war noch viel besser.

Am Kassenhäuschen hatte der Kartenverkäufer aber erst einmal keine Karten zu verkaufen und stand deshalb in leicht verzweifeltem Funkkontakt zur Hauptkasse. Uns ließ er aber trotzdem rein für 12 Euro (und er besorgte uns in der Halbzeitpause noch drei Tickets als Andenken), während die Rentner in der Schlange frotzelten, nicht dasse datt inne eigene Tasche abzweichst.

Überhaupt diese Sprache: So einfach und direkt, so charmant und witzig. Da könnte ich die ganze Zeit dastehen und die Leute belauschen, wenn es halt nur nicht so unhöflich wäre. Daher traf es sich ganz hervorragend, dass der Stadionsprecher minutenlang vergaß sein Mikro auszuschalten, denn so hatte man doppelt gute Unterhaltung: Aus den Boxen der Slang und auf dem Rasen die Action.

Und was für eine Action das war: 90 Minuten (plus Nachspielzeit!) als wilde Achterbahnfahrt der Emotionen – Erwartung, Freude, Enttäuschung, Ärger, Mutlosigkeit, Skepsis, Hoffnung, Begeisterung, Ekstase. Wobei wir ja maximal als Sympathisanten durchgehen; wie es während des Spiels im Inneren eines Westfalia-Fans aussah (oder gar bei Christian Knappmann, einem Fußballlehrer aus der Abteilung ‚Überaus engagiert‘) möchte ich gar nicht wissen.

Zu Gast beim Tabellenvorletzten war der TuS Haltern, seines Zeichens Aufstiegsaspirant, der ganz in der Anfangsphase zwar zwei dicke Torgelegenheiten hatte, sich dann aber zunehmend mit Herner Gegenwehr konfrontiert sah und schon nach 13 Minuten durch einen Foulelfmeter 0:1 hinten lag.

Der Rest der 1. Halbzeit blieb ohne Treffer, obwohl es hüben wie drüben Chancen gab – es waren attraktive 45 Minuten gewesen, ohne ersichtliche Unterschiede zwischen dem Auf- und dem Abstiegskandidaten.

   

     

        

  

     

Nach dem Wechsel aber nahm das Spiel dann doch sehr schnell seinen erwarteten Lauf, zwischen der 47. und der 57. Minute fielen drei Tore für die Gäste, allesamt großzügige Geschenke der Herner – dem 1:1 ging ein zu kurz geratener Rückpass voraus, beim 1:2 standen nach einem quergelegten Freistoß zwei Halterner an der Sechzehnerlinie völlig frei, das 1:3 war ein ganz und gar unbedrängter Kopfball aus vier Metern Entfernung.

Auf der mit knapp 500 Zuschauern aus Herne und Haltern bunt gemischten Tribüne hatten längst die auswärtigen Anhänger das Kommando übernommen, nur noch die ganz widerständigen unter den Hernern beantworteten das lang gezogene ‚Haaaaltern‘ mit einem ebenso langen ‚Scheeeeiße!‘. Doch auch sie verstummten, als weitere zehn Minuten später sogar noch das 1:4 fiel.

Wir hatten uns ebenfalls damit abgefunden, dass es beim Fußball eben selten so läuft wie man sich das wünscht. Der Tenor war: Ist doch trotzdem super, dass wir hier sind, was für ein geiler Ground, was für nette Leute, und immerhin haben wir überhaupt Tore gesehen.

Dann, aus heiterem Himmel direkt nach Wiederanstoß, trafen die Hausherren zum 2:4, ein Zufallstreffer, und ich wusste nicht so recht, ob es sich rentierte, noch einmal Hoffnung zu schöpfen, zumal nichts auf eine weitere Wende im Spiel hindeutete; zu wenig gelang der Westfalia nach vorne, zu stabil präsentierte sich der Favorit. Doch als es nach einer abgefälschten Hereingabe eine Viertelstunde vor Schluss plötzlich 3:4 stand, lag sie unmissverständlich in der Luft, diese eigenartige Spannung, die durch ein Gefühl hervorgerufen wird, das ich in dieser Form nur vom Fußball kenne – das Gefühl, dass heute möglicherweise endlich der Tag ist, an dem man bekommt, was einem lange zusteht, etwas, worauf man ein Recht hat, weil es einem schon viel zu oft versprochen worden war, ohne je eingelöst zu werden. Das Gefühl, dass die Verheißung, auf die man seit Ewigkeiten wartet, vielleicht – aber nur vielleicht – gerade heute wahr werden wird. Das Gefühl, dass einem endlich einmal im Leben Gerechtigkeit widerfährt.

Und dieses Gefühl habe nicht nur ich, das haben alle anderen auch, außer die, die nicht zu Herne halten, denen geht es genau umgekehrt, die haben plötzlich eine Heidenangst vor einem sagenhaften Schlag in die Magengrube, von dem sie sich tagelang nicht erholen werden, Angst vor der vollkommenen Demütigung, vor einem Sonntagabend in Apathie, vor einer Woche ohne den Sportteil ihrer Tageszeitung, weil sie den gar nicht mehr aufschlagen können, ohne dass alles noch einmal hochkommt und sie wieder an dieses Spiel denken müssen, das sie schon so schön verdrängt hatten.

In dieser Konstellation schauen wir eine Viertelstunde lang Fußball, die Herner voller Hoffnung und die Halterner voller Angst. Wie aber die Sekunden verrinnen und zu Minuten werden, wie die 80. zur 85. zur 89. zur 93. wird, rückt das Versprechen des Lebens an mich wieder langsam von mir ab, jeder Ballverlust von Westfalia lässt mich ein bisschen mehr in mich zusammensinken und jeder verlorene Zweikampf raubt mir ein weiteres Stück Hoffnung und jeder Fehlpass ist Betrug an mir und doch ist es immer noch nicht vorbei, nicht für mich und nicht für die anderen Herner, und jede Balleroberung wird begleitet von kollektivem Aufjubeln und jeder Gegenangriff von anschwellenden Anfeuerungsrufen und jeder Torabschluss von einem Moment des allumfassenden Luftanhaltens und dann kommt der Trotz und dann schwillt ein vorletztes, ein letztes Mal die Brust und dann schreit alles wieder ‚West-West-Westfalia‘, aber jetzt kann es nicht mehr lange gehen, doch gibt es noch einen letzten Einwurf und der ist lang und wird immer länger und landet am Sechzehner und jetzt gibt es ein Getümmel und jetzt fällt der Ball vor die Füße von Bilal Abdallah und jetzt jetzt jetzt zieht er von der Strafraumgrenze aus ab und zimmert die Kugel ins rechte Toreck

und der Rest ist Raserei.

 

Der Beweis der Güte Gottes

Ein Gedanke zu „Der Beweis der Güte Gottes

  • Alte Heide,
    großartiger Text.

    hab am Ende nur noch auf den Ausgleich der Westfalia gehofft .
    4:4 :
    und ich war -fast- live dabei.

    Günter

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