Barnsley, eine Industriestadt im Norden Englands. Ein lauter Pub, gerade Bier geholt. Reisebegleiter Dearer blättert abwesend in seiner Sport-Bild. „Der Typ an der Wand ist voll aggressiv“, flüstert er fast, ohne zu dem tätowierten Endfünfziger zu schauen. Der Mann habe in seinem northern accent etwas Unverständliches gesagt und sei fast ausgerastet, als Dearer es partout nicht verstand. Dabei ging es nur um den vergessenen Handschuh auf unserem Tisch. „Der Typ hat sich früher bestimmt oft geprügelt“, sagt Dearer, ein Deutscher. „Falls er fragt, wo ich herkomme, sage ich: from Switzerland.“ Ist seit 1914 unverfänglicher.

Na toll: Das Spiel des Barnsley FC am Abend ist abgesagt, wegen Schnee und Eis. Das Spiel am Vortag in Sheffield: dito. Und jetzt sitzen wir in dieser trostlosen Stadt und fühlen uns bedroht. Warum tun wir uns das an?

Drei Tage vorher hatte alles passabel angefangen. Zwischen den Jahren wird in Grossbritannien traditionell Fussball gespielt, an mehreren Spieltagen – wie gemacht für Groundhopper. Und so passierten wir am zweiten Weihnachtsfeiertag die Drehkreuze von Leeds United. Vom Tribünenbauch schauten wir die Treppe hoch ins Stadioninnere: ein Ordner, ein Stück Dach, der Himmel. Vorfreude im Bauch, Fussball im Kopf. Ein Gefühl wie beim allerersten Mal im Stadion. Mit jedem Schritt die Treppe hoch weitete sich der Blick: auf den Hang voller Reihenhäuser hinter einer Tribüne, auf die mächtige Haupttribüne, auf die altbackene Pressetribüne direkt unterm Dach. In unserer Reihe begrüssten die Fans sich mit Handschlag und „Merry Christmas“. Dann sangen sie „We’re not famous anymore“, wir sind nicht mehr berühmt: Leeds hatte vor zehn Jahren in der Champions League gespielt, heute kam in der Zweiten Liga der Vorletzte Wigan. Leeds erzielte ein dämliches Eigentor und kassierte eine Viertelstunde vor Schluss das 0-2. Erst fluchten die Fans, dann flüchteten sie.

Leeds

Tagsdrauf war spielfrei, wir fuhren in den zugeschneiten Nationalpark Peak District. Würde das nächste Spiel überhaupt stattfinden? Naja, in Sheffield liegt wohl weniger Schnee und zum Räumen bleibt genug Zeit, dachten wir. Am Spieltag fragten wir einen Fussgänger nach dem Weg zum Stadion von United. „Das Spiel ist verschoben  – deswegen“, sagte der Mann und zeigte auf das zugefrorene Trottoir. Verdammt. So oder so, wir wollten das angeblich älteste Stadion im weltweiten Profifussball sehen. Von aussen sah man nur Klinkermauern von der x-ten Renovierung. Kein Mensch weit und breit. Allein vor einem Eckladen standen drei Männer mit Rucksäcken und Dosenbier: deutsche Groundhopper. Ein sächselnder Mittzwanziger trug eine Mütze von Aris Thessaloniki, sein wortkarger Vater eine von  Besiktas Istanbul. Den Dritten, einen Fan des VfB Stuttgart, hatten sie im Bus kennengelernt. Als sie hörten, dass wir mit dem Auto da sind, sagten sie vorsichtig: „Accrington spielt um 15 Uhr. Sind zwar 100 Kilometer, aber bis zur zweiten Halbzeit…“ – „Wir haben einen Mini“, unterbrach sie Dearer, bevor die drei auf dumme Ideen kamen. Lieber zurück in den Nationalpark.

Sheffield United   Peak District

Und nun sassen wir also in einem Pub in Barnsley. An den Nebentisch setzten sich drei Männer um die Vierzig. Sie sprachen Deutsch. „Na, auch wegen Fussball hier?“, fragten wir. Klar. Die drei hatten am Boxing Day Burnley gegen Liverpool gesehen. „Ich hab da Freunde“, erklärte der Toolmaker: Engländer, die er über Fans des holländischen Vereins NAC Breda kannte, die er wiederum aus dem Fanblock von St. Pauli kannte. Alteheide und Marc-o-mat schwärmten von Burnleys Stadion: „Du läufst durch ein Wohngebiet, und auf einmal stehst du davor.“ Die Ecken seien offen, die Tribünen unterschiedlich hoch. Das Gegenteil einer 08-15-Arena auf der grünen Wiese.

Die drei waren St. Pauli-Fans und trauerten den Zeiten hinterher, als noch nicht die Ultras die Fankurven dominierten. „Wenn die mal eine halbe Stunde zu spät zum Auswärtsspiel kommen, singt niemand“, sagte Alteheide. Wie anders Grossbritannien: Hier gibt es keine Ultras, keine Vorsänger, kaum Trommler. Jeder kann einen Gesang anstimmen oder neu erfinden. Das passiert zwar leider in vielen Stadien mit ihren teuren Tickets immer weniger. Aber, wie die drei St. Pauli-Fans erlebt hatten, können selbst in der neunten Liga 500 Zuschauer kommen und nach einem grotesk verzogenen Torschuss des Gegners singen: „Can we play you / every week?“ – Dürfen wir jede Woche gegen euch spielen?

Wir waren uns einig: Das Faszinierende an all den Stadienbesuchen ist nicht das Spiel, sondern das ganze Drumherum. Die Leute, die Stadien, ihre Geschichten: Die Haupttribüne des Wiener Vereins Favoritner AC, die in ein wuchtiges Mietshaus integriert ist. Das Stadion des schottischen Viertligisten Arbroath, das direkt am Meer liegt. Die Einladung zum Tee auf der VIP-Tribüne in der Türkei. Wo sonst mischt man sich als Fremder so einfach unter Einheimische?

Antwort: beim Bingo. Der Abend war noch jung, und Marc-o-mat hatte die Broschüre der Bingo-Halle dabei. Dort angekommen, bekamen wir Mitgliedsausweise, kauften ein „Bingo-book“ mit Zahlen und die Jackpot-Option. Im rot-blau-gelben Saal wähnten wir uns in einem Film aus den Achtziger Jahren. Hunderte Tische, fast alle besetzt mit Spielern zwischen 20 und 70 Jahren. Stille. Nur auf der Bühne sprach eine blondierte Dame mantrahaft ins Mikrofon: „One and three – thirteen. Both the sixes – sixty-six. Seven – by itself, number seven.“ Wir kamen mit dem Markieren der Zahlen kaum nach. In der Pause liessen wir uns erneut die Regeln erklären, zur Sicherheit, denn gleich ging es um den Jackpot, gut 2000 Pfund. Wir gewannen nicht einmal zehn Pfund für eine komplette Zahlenreihe.

Bingo   Barnsley

Am nächsten Tag liessen wir uns am Stadion von Barnsley die Eintrittskarten erstatten. Ob wir das Stadion von innen sehen könnten? Ein Mitarbeiter führte uns an eine Eckfahne. Old School, so muss es auch in Burnley aussehen. Der Mitarbeiter sagte routiniert: „Wir hatten heute Morgen schon eine Familie aus Kanada hier, ausserdem Schweden, Belgier und Deutsche.“ Draussen trafen wir einen Co-Trainer, er lud uns zum Gang durch den Spielertunnel ein. „Die Sitze da oben sind noch aus Holz“, sagte er und zeigte auf eine Tribüne. Er erzählte von seiner Karriere als Profispieler, und dass er seitdem am Jahresende nicht mehr feiere, wegen all der Spiele. „An Silvester kommen zwar Freunde, aber nur um fünf Uhr zum Tee.“

Ein Spiel stand noch an, Wigan gegen Sheffield Wednesday. Oder war es abgesagt? Am Telefon antwortete eine Wigan-Mitarbeiterin mit einem Satz, den vermutlich noch keine Britin vor ihr gesagt hatte: „There’s no bad weather here.“ In Wigan bliess uns bei Minusgraden der Wind ins Gesicht, aber Schnee gab es in der Tat nicht. Das Stadion sah aus wie ein Playmobil-Modell. Die Wigan-Fans hörte man kaum, und die vielleicht 4000 Sheffield-Fans machten sich einen Spass daraus, die Wigan-Lieder viel, viel lauter weiterzusingen. So auch in der Halbzeitpause, als die Stadionregie des Tabellenvorletzten Bob Marley spielte und es aus der Auswärtskurve belustigt tönte: „Don’t worry /about a thing / ‚cause every little thing / gonna be alright“ – Mach dir keine Sorgen, Darling, denn alles, wirklich alles wird gut. Wigan aber kassierte noch das 0-1 und eine rote Karte. Abpfiff, lauter werdende Geigen, dann sang Richard Ashcroft: „’Cause it’s a bitter sweet / symphony this life.“

Wigan

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Der idiotensport dankt unserem Gastautor Kloot sehr herzlich für Wort und Bild. Fuckin‘ quality, man!

 

 

Zwischen den Jahren: Groundhopping in England
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